„22 Bahnen“ im Kino: Caroline-Wahl-Bestseller wird zum berührenden Film

Der Regen prasselt auf die Wasseroberfläche, es ist fast, als wäre man als Zuschauer selbst im Schwimmbecken und würde die sich verändernde Wasserstruktur von unten beobachten. Eine schöne, eine beruhigende Perspektive. Nach einem weichen Kameraschwenk sieht man auch die kraulende Tilda und die tauchende Ida. Zwei Schwestern, jeweils „die Hälfte von einem Ganzen, ein intakter Organismus“. So sieht das Ich-Erzählerin Tilda.
So beginnt die Verfilmung von „22 Bahnen“, des Debütromans von Caroline Wahl, der die junge Autorin 2023 auf die Bestsellerlisten katapultierte und zur gefragten Newcomerin machte. Dabei ist die Geschichte dieses ungleichen Geschwisterpaares, das mit einer alkoholkranken Mutter lebt, weder explosiv noch katapultierend - auch nicht in bewegten Bildern.

Es sind eher die leisen Zwischentöne, die hier bewegen. Die einen mal an der Ungerechtigkeit des Lebens verzweifeln lassen und dann wieder trösten und an die Liebe aller Art glauben lassen, vor allem aber an die zwischen Geschwistern.
Das Freibad, die titelgebenden „22 Bahnen, die nur mir gehören”, die Mathestudentin Tilda (gespielt von Luna Wedler) dort immer schwimmt, und die Ringe, nach denen ihre elfjährige Schwester Ida (Zoë Baier) dort nur bei Regen taucht, sind die Klammer für die Geschichte. Dorthin kehren die beiden immer wieder zurück. Das Schwimmbecken ist der Ort, an dem die Schwestern dem oft schwierigen Alltag mit der Mutter entfliehen können. Außerdem ist es der Ort, an dem Tilda auf Viktor (Jannis Niewöhner) trifft.
Wo sie ihn wiedertrifft, muss man sagen. Denn die beiden haben sich schon mal gesehen - bei der Beerdigung von Viktors Bruder Ivan, mit dem Tilda befreundet war. Zwischen der sommersprossigen Mittzwanzigerin und dem verschlossenen, schwer lesbaren Viktor, der nicht nur seinen Bruder, sondern auch seine Eltern bei einem Autounfall verloren hat, spürt man sofort eine Art Anziehung. Aber da sind auch viele Unsicherheiten, jeder ist mit sich selbst beschäftigt. Und dann gibt es noch ein Geheimnis, das Tilda zusetzt. All das spielen Wedler und Niewöhner gut.

Es ist oft dunkel in dieser Verfilmung, und es regnet oft - nicht nur im Schwimmbad, auch nach einer Partynacht mit alten Freunden oder wenn Ida plötzlich verschwunden ist. Und auch in der Wohnung der Geschwister und ihrer Mutter, wo ein leerer oder mit Flaschen gefüllter Jutebeutel den Mädchen verrät, ob ihre Mutter gerade wieder trinkt, herrscht eine dunkle, teilweise bedrohliche Atmosphäre. Der nächste Ausraster der Mutter - er ist möglicherweise nur einen Moment entfernt.
Szenen wie die, in der die kleine Ida ihre Schwester überzeugt, schwimmen zu gehen und sie allein mit der komatös auf dem Sofa liegenden Mutter zu lassen, sind besonders schmerzhaft. „Die Wahrscheinlichkeit, dass sie zwei Tage hintereinander ausflippt, ist gegen null”, vermutet das Mädchen, aber immer mehr wird ihr klar, dass sich der Zustand ihrer Mutter nicht bessern wird. Es ist etwas, womit sie leben werden müssen.

Und das tun sie. Ida geht in die Schule, Tilda zur Uni und jobbt im Supermarkt. Beide zusammen steigen ins Becken – immer, wenn es regnet, und auch mal, wenn das Freibad eigentlich geschlossen hat. Und Tilda und Viktor begegnen sich wieder und wieder und nähern sich an. In Rückblenden wird auch noch die Geschichte mit Ivan aufgeblättert - die Nacht vor seinem Tod.
Tilda träumt zugleich von einer Promotion in Berlin – hat aber Angst, ihre kleine, schüchterne Schwester, die längst nicht so abgebrüht ist wie sie, in der häuslichen Situation alleinzulassen. Die unwägbar ist - auch wenn die Mutter immer mal wieder versucht, als Elternteil nicht komplett zu versagen. Dann schnitzt sie Rosen aus Radieschen zum Abendessen, der Versuch, Zuneigung zu zeigen. Aber Radieschenröschen sind nicht genug.
Warum sie sich dem Suff ergeben hat, was sie im Innersten plagt, was mit den Vätern der beiden Töchter passiert ist - all das bleibt offen. Die Mutter ist alles an Familie im Leben der Schwestern. Wobei im Fokus die Schwesternbeziehung selbst steht. Nur zusammen sind Tilda und Isa ganz, ihr Sich-gegenseitig-Haben ist ihre Superpower, ihre stille Kraft.
Literarisch wurde die Geschichte von Ida und Tilda mit „Windstärke 17″ bereits weitergeschrieben - dann aus der Perspektive der älter gewordenen Ida. Sollte „22 Bahnen“ beim Publikum gut ankommen, ist vorstellbar, dass auch aus dem Fortsetzungsroman ein Film wird. Die melancholische, manchmal desillusionierende, aber gleichzeitig lebenszugewandte Verfilmung hat allemal das Potenzial. Sie geht direkt ins Herz.

Auch dass die vorsichtig sich anbahnende Liebesgeschichte zwischen Tilda und Viktor nicht bis zum Äußersten ausdefiniert wird, schon gar nicht auf körperlicher Ebene, passt zur Gesamtstimmung des Films. Und natürlich, dass Tilda und Ida am Ende ein weiteres Mal im Schwimmbad sitzen. Nur ist es diesmal anders. Diesmal regnet es nicht.
„22 Bahnen“, Regie: Mia Maariel Meyer, mit Luna Wedler, Zoë Baier, Jannis Niewöhner, 103 Minuten, FSK 12 (Filmstart am 4. September).
rnd